Jüngere Gerichtsentscheide schaffen eine neue Ausgangslage zum Bauen an lärmbelasteten Lagen. Wohnbaugenossenschaften Zürich bietet mit diesem Faktenblatt eine Hilfestellung, welche den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung trägt.
1 – Ausgangslage
Lärmschutz ist Gesundheitsschutz. Ausgehend von diesem Grundsatz regeln das Umweltschutzgesetz (USG), die Lärmschutzverordnung (LSV) und die kommunalen Regulatorien wie die Bau- und Zonenordnung wie stark Wohnräume dem Lärm ausgesetzt werden dürfen.
Gemessen wird beim offenen Fenster, technische Lärmschutzmassnahmen wie Schallschutzfenster oder eine kontrollierte Wohnungslüftung werden nicht berücksichtigt.
Die Bevölkerungsentwicklung hat zu einer baulichen Verdichtung innerhalb und ausserhalb der Agglomerationsgebiete und zu einer Zunahme des Verkehrs und der Lärmimmissionen geführt. Dadurch hat sich der Konflikt zwischen Lärmschutz und der baulichen Entwicklung verschärft. Immer mehr Wohnbauten sind für die Baubewilligung auf eine Ausnahmebewilligung für vereinzelte Wohnungen angewiesen, welche die maximal zulässigen Lärmimmissionen überschreiten. Der Bundesgerichtsentscheid zur Lüftungsfensterpraxis von 2015 hat zu einer Änderung der rechtlichen Beurteilung und zur Etablierung der bis vor kurzem gültigen Bewilligungspraxis geführt.
2 – Änderung der Gerichtspraxis
Bis anhin hat die Fachstelle Lärmschutz (FALS) des Kantons Zürich Ausnahmebewilligungen für Wohnbauprojekte, die die zulässigen Immissionsgrenzwerte (IGW) überschreiten aufgrund klar definierter Anforderungen gesprochen. Weil diese Praxis bis vor kurzem nicht angefochten wurde, konnte von der Erteilung einer Ausnahmebewilligung ausgegangen werden.
Vier Fälle der jüngeren Vergangenheit haben nun gezeigt, dass dies heute nicht mehr der Fall ist. In allen Fällen, zwei davon in der Stadt Zürich, haben die Gerichte die Ausnahmebewilligungen der FALS gerügt und den Rekurrierenden Recht gegeben, die die Nichteinhaltung der IGW kritisiert haben.
Die Baubewilligungen dieser Wohnbauprojekte sind damit aufgehoben. Durch einen Weiterzug an die nächsthöhere gerichtliche Instanz wird der rechtliche Sachverhalt neu und allenfalls anders beurteilt. In einem Fall wurden die vorinstanzlichen Urteile durch das Bundesgericht bestätigt und sind damit definitiv.
3 – Folgen für gemeinnützige Bauträger
Dem Lärmschutz muss bei Neu- und Ersatzneubauten vertiefte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bauträger müssen sich bewusst sein, dass auch wenn sie die Anforderungen der FALS einhalten, eine Baubewilligung Angriffsfläche für Rekurse bietet. Aufgrund der erwähnten Gerichtsentscheide muss davon ausgegangen werden, dass die Ausnahmebewilligungen der FALS erfolgreich angefochten werden können.
Dies gilt insbesondere bei Wohnbauten mit erhöhter Ausnützung z.B. mittels einer Arealüberbauung oder eines Gestaltungsplanes, da gerade in diesen Fällen eine grössere Anzahl von Wohnungen von IGW-Überschreitungen betroffen sein können und erhöhte qualitative Anforderungen gefordert sind.
Die FALS hat als Reaktion auf die jüngsten Gerichtsentscheide Empfehlungen für den Baubewilligungsprozess im Sinne von Art. 31 LSV herausgegeben, siehe 10. Quellenangaben.
4 – Rahmenbedingungen für Ausnahmebewilligungen
Eine Ausnahmebewilligung hat vor den Gerichten nur dann Bestand, wenn sämtliche baulichen und gestalterische Massnahmen nachvollziehbar geprüft wurden und in Abwägung weiterer Aspekte wie dem Städtebau und der Innenverdichtung keine Verbesserung der Lärmsituation oder keine Reduktion der Lärmbelastung möglich ist. Erst wenn alle Möglichkeiten geprüft und ausgeschöpft wurden und die IGW trotzdem nicht überall eingehalten werden können, kann eine Ausnahmebewilligung als «ultima ratio» in Betracht gezogen werden. Diese wird nur gewährt, wenn an der Errichtung der Baute ein übergeordnetes Interesse besteht. Für Wohnräume, bei denen an mindestens einem Fenster die IGW eingehalten sind (gelbe Räume), erteilt die FALS Ausnahmebewilligungen. Für Wohnräume, bei denen die IGW an keinem Fenster eingehalten werden (rote Räume), spricht die FALS Ausnahmebewilligungen, wenn maximal ein Drittel der Zimmer einer Wohnung betroffen sind. Bei Wohnungen mit roten Räumen muss das lärmbelastete Zimmer durch lärmabgewandte Zimmer in der gleichen Wohnung und einen ruhigen Aussenbereich (Balkon, Sitzplatz, Terrasse, mit einer Mindesttiefe von 2 m und einer Mindestfläche von 6 m2) kompensiert werden.
5 – Empfehlungen für gemeinnützige Bauträger
Bauträger, welche in einem Entwicklungsprozess oder davor stehen empfehlen wir, Bauvorhaben unabhängig vom aktuellen Planungsstand, eingehend auf die Lärmproblematik zu prüfen. Nachdem zumindest ein Teil der eingangs erwähnten Urteile an die nächsthöhere Instanz weitergezogen wurden, sind voraussichtlich im Frühling 2021 Urteile höherer Gerichtsinstanz zu erwarten. Wir rechnen allerdings nicht mit einer grundsätzlichen Praxisänderung. Zum jetzigen Zeitpunkt (Herbst 2020) empfehlen wir folgende Schritte in Erwägung zu ziehen:
– Frühzeitiger Beizug eines auf Lärm spezialisierten Experten (Akustikerin)
– Erstellung eines Lärmgutachtens vor Einleitung eines Konkurrenzverfahrens oder der Erteilung eines Direktauftrags
– Sorgfältiges Studium der Informationen der FALS
– Prüfung sämtlicher baulicher und gestalterischer Massnahmen zur Reduktion der Lärmbelastung.
– Bei Konkurrenzverfahren und Direktvergaben soll grundsätzlich angestrebt werden, die IGW bei den Wohnräumen zumindest am Lüftungsfenster einzuhalten (gelbe Räume) und auf rote Räume vollständig zu verzichten oder auf nur wenige sehr gut begründete Fälle zu beschränken.
– Sensibilisierung und Verpflichtung von Wettbewerbsbegleitern und Jurymitgliedern, der Lärmproblematik eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken
Sollten die IGW nicht bei allen Wohnräumen eingehalten werden können und ist voraussichtlich eine Ausnahmebewilligung erforderlich, soll auf folgende Punkte geachtet werden:
– Es ist nachvollziehbar zu dokumentieren, welche Massnahmen geprüft und inwieweit diese ausgeschöpft wurden um die Lärmbelastung zu reduzieren. Bei Konkurrenzverfahren könnte dies z.B. durch eine vergleichende Erläuterung der eingereichten Projekte und einen detaillierten Beschrieb des Evaluationsprozesses im Jurybericht erfolgen.
– Schliesslich hat die Bauherrschaft die Gründe darzulegen, weshalb sie sich für die gewählte Lösung entschieden hat (bzw. die Baubewilligungsbehörde hat diese einer Wertung zu unterziehen)
– Als Grundlage für eine durch die Bewilligungsbehörde erfolgende Interessenabwägung, ist das übergeordnete (private wie auch öffentliche) Interesse an der Realisation dieses Projekts an diesem Ort und in dieser Ausgestaltung darzulegen, z.B. die Schaffung von neuen Wohnungen an Standorten mit Wohnungsknappheit und Schaffung von preisgünstigem Wohnraum an Standorten mit hohem Mietpreisniveau (Stadt Zürich).
Weiterführende Informationen sind auf den Websiten der FALS, insbesondere unter dem Thema «Lärmschutz bei Bauvorhaben» und der des «Cercle Bruit Schweiz» abrufbar: www.zh.ch/laerm und www.bauen-im-laerm.ch
6 – Empfehlungen für die Planenden
Bauträger sollten von den Planenden die Prüfung folgender Massnahmen zur Reduktion des Lärms fordern, auch wenn je nach Situation die IGW nicht bei allen Wohnräumen eingehalten werden können:
– Baukörper lärmoptimiert anordnen
– Baukörper selbst sind Lärmriegel. Keine solitären Lärmschutzwände. Lärmschutzwand nur integriert in die Gebäude
– Anordnung und Ausrichtung der lärmempfindlichen Räume so, dass möglichst wenige von IGW Überschreitungen betroffen sind
– Schlafzimmer wenn immer möglich zur ruhigen Seite
– Kleinwohnungen auf der lärmabgewandten Seite
(1- bis 2½-Zi-Whg.)
– Durchgehende Wohn-Essbereiche mit lärmabgewandtem Lüftungsfenster sowie einem lärmgeschützten Aussenbereich
– Kompensation der lärmbelasteten Zimmer durch lärmabgewandte Zimmer in der gleichen Wohnung und einen ruhigen Aussenraum
Gemäss Art. 11 USG sind schädliche oder lästige Emissionen grundsätzlich an der Quelle zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, dass der Strassenlärm durch Massnahmen an der Strasse, etwa durch den Einbau von Flüsterbelägen, die Verkehrsführung oder betriebliche Massnahmen, wie etwa Temporeduktionen begrenzt werden kann. Ob dies im konkreten Fall ausreicht, lässt sich nicht generell beantworten, prüfenswert sind sie bei Grossprojekten allemal. Diese Abklärungen sind allerdings ausserhalb des Projekts sowie in einer Vor- oder frühen Projektphase zu tätigen. Im Baubewilligungsverfahren ist es hierfür grundsätzlich zu spät.
7 – Anpassungen der Lärmschutzverordnung hängig
Zuständig für den Erlass und die Änderung der Verordnungen zum USG ist der Bundesrat. Bezüglich des Lärmschutzes will die Motion Flach, 2016 eingereicht, dass in lärmbelasteten Gebieten die raumplanerisch geforderte Siedlungsverdichtung nach innen möglich wird und dabei dem Schutz der Bevölkerung angemessen Rechnung getragen wird. Ein Abwarten der allfälligen Anpassung von USG und LSV ist nicht unbedingt zielführend, denn dieser Prozess dürfte einige Jahre dauern.
8 – Fazit
Dem Lärmschutz muss zukünftig eine erhöhte Beachtung geschenkt werden. Die FALS gewährt nach leicht angepassten Regeln auch weiterhin Ausnahmebewilligungen, diese sind aber nicht automatisch rekurssicher, sie bieten jedoch generell eine grössere Angriffsfläche.
Bauträger, welche in einem Entwicklungsprozess oder davor stehen empfehlen wir, die bereits getätigten Abklärungen bzw. die vorgesehenen Lärmschutzmassnahmen unter den genannten Prämissen einer näheren Prüfung zu unterziehen.
Grundsätzlich gibt es nur eines: Frühzeitig und umfassend auch den Lärmschutz in die Planung einbeziehen, bei Projekten mit IGW-Überschreitungen darauf achten, dass alle möglichen Massnahmen sorgfältig geprüft und soweit als möglich ausgeschöpft wurden und dies in den begleitenden Unterlagen nachvollziehbar dargelegt wird.
9 – Rechtlicher Hinweis
Wohnbaugenossenschaften Zürich hat dieses Faktenblatt aufgrund der nachfolgend erwähnten Quellen nach bestem Wissen und Gewissen und in Absprache mit der Fachstelle Lärmschutz des Kantons Zürich verfasst. Ergänzend stand Wohnbaugenossenschaften Zürich ein Rechtsgutachten von Brüngger Mattenberger Luginbühl Rechtsanwälte zur Verfügung, das durch die Allgemeine Baugenossenschaft
Zürich (ABZ) in Auftrag gegeben wurde. Der Regionalverband Zürich bedankt sich bei der ABZ für die grosszügige Zurverfügungstellung des Gutachtens.
Das Faktenblatt enthält generelle Hinweise und Empfehlungen für ein zweckmässiges Vorgehen, es entbindet nicht von einer eigenen Auseinandersetzung mit dem Lärmschutz und den Beizug von Spezialisten.
10 – Quellenangaben
– Empfehlungen für den Baubewilligungsprozess – Vollzug von Art. 31 LSV, FALS, 1. September 2020. Zugänglich auf der Homepage www.bauen-im-laerm.ch.
– Entscheid Baurekursgericht des Kantons Zürich in Sachen Baugenossenschaft O, Zürich vom 5. Juni 2020
– Entscheid Verwaltungsgericht des Kantons Zürich in Sachen Stiftung G, Zürich vom 27. Februar 2020
– Entscheid Verwaltungsgericht des Kantons Zürich in Sachen MFH, Rüschlikon vom 18. Dezember 2019
– Entscheid Bundesgericht in Sachen zweier MFH, Zug vom 2. April 2019
– Die bauliche Verdichtung ist weitgehend ausgehebelt; Artikel in der NZZ vom 15. Juli 2020
– Interview Zürcher Stadtrat ist ratlos wegen der neuen Lärmschutzvorschriften: «Wir wissen nicht genau, was wir den Bauherren raten sollen» , Onlineartikel in der NZZ vom 15. Juli 2020