Ersatzneubauten im gemeinnützigen Wohnungsbau: An diesen fünf Prinzipien orientieren sich die gemeinnützigen Bauträger.
>>> Die Wohnbaugenossenschaften haben seit der Jahrtausendwende zahlreiche Liegenschaften abgebrochen und durch neue Wohnhäuser ersetzt. Insbesondere in der Stadt Zürich konnten sie mit diesen Ersatzneubauten den gemeinnützigen Wohnungsbestand erneuern, energetisch verbessern und viele zusätzliche Wohnungen an gut erschlossenen Lagen erstellen. Doch der Ersatzneubau ist in letzter Zeit in die Kritik geraten, denn mit dem Abriss von Gebäuden wird auch graue Energie vernichtet, Bewohnende müssen umziehen und günstiger Wohnraum in Altbauten verschwindet.
Jede Entscheidung für oder gegen einen Ersatzneubau ist von Zielkonflikten geprägt. Einfache Lösungen gibt es nicht. Es gilt in jedem Einzelfall die verschiedenen Optionen und ihre Vor- und Nachteile gründlich abzuwägen.
Wohnbaugenossenschaften gehen sehr sorgfältig vor, um bei der Erneuerung ihres Wohnungsbestands effiziente und sozialverträgliche Lösungen zu finden. Sie orientieren sich dabei an fünf Prinzipien:
Im Vergleich zu anderen Hauseigentümern setzen Wohnbaugenossenschaften häufiger auf Ersatzneubauten. Das hat verschiedene Gründe:
Viel in kurzer Zeit gebaut
Die Zürcher Wohnbaugenossenschaften haben einen grossen Teil ihrer Liegenschaften innerhalb weniger Jahrzehnte in der Zwischen- und Nachkriegszeit erstellt. Diese Gebäude sind nun zwischen 70 und 100 Jahre alt und müssen umfassend erneuert werden, denn ihre Bausubstanz ist meist schlecht und sie verpuffen viel Energie. Oft sprechen verschiedene Argumente für den Ersatz der Liegenschaften.
Mehr Wohnungen für mehr Menschen
An gut erschlossenen Lagen mehr Wohnraum zu bauen, ist ökologisch sinnvoll und verhindert, dass sich die Siedlungsflächen immer weiter ausdehnen. Deshalb erlaubt der Stadtzürcher Zonenplan in vielen Quartieren viel mehr Wohnungen auf der gleichen Parzelle zu bauen. Dazu kommt, dass die Wohnbaugenossenschaften wachsen wollen, damit mehr Menschen in gemeinnützigen Wohnungen leben können. In der Stadt Zürich ist sogar in der Gemeindeordnung festgehalten, dass ein Drittel aller Wohnungen gemeinnützig sein soll. Dieses ehrgeizige Ziel ist mit Aufstockungen und Anbauten allein nicht zu erreichen. Mit höheren Neubauten ist es jedoch oft möglich zu verdichten und gleichzeitig zusammenhängende Grünflächen zu erhalten.
Günstige Mieten dank eigenem Land
Das Land, auf dem Genossenschaftsbauten stehen, ist in den meisten Fällen seit Jahrzehnten im Besitz der Genossenschaft. Genossenschaften berechnen die Mieten auf dem ursprünglichen Landwert und können damit preisgünstigen Wohnraum anbieten. Neues Land zu kaufen, ist in städtischen Gebieten hingegen sehr schwierig und teuer. Auf dem eigenen Land ist es jedoch möglich, kostengünstigen neuen Wohnraum zu erstellen.
Wohnungen für heutige Bedürfnisse
Der Wohnungsmix in den alten Gebäuden entspricht oft nicht mehr den heutigen Anforderungen. Viele Genossenschaften haben ursprünglich 3- und 3.5-Zimmer-Wohnungen mit kleiner Wohnfläche gebaut. Damals galten sie als Familienwohnungen. Heute fehlen grössere Wohnungen für Familien und kleine Wohnungen für die wachsende Zahl von alleinstehenden älteren Menschen. Neue Gebäude haben ausserdem den Vorteil, dass sie barrierefrei sind.
1. Mängel feststellen und weitere Abklärungen treffen
Am Anfang eines Erneuerungsprojekts steht in der Regel ein Mangel einer Liegenschaft wie schlechte Bausubstanz oder ein Wohnungsangebot, das nicht mehr dem heutigen Standard oder der Nachfrage entspricht. Überdies können auf einer Parzelle hohe Ausnützungsreserven bestehen, was bedeutet, dass die Genossenschaft dort grössere Gebäude mit mehr Wohnungen bauen könnte. In der Folge macht sich der Vorstand der Genossenschaft erste Gedanken über die verschiedenen Erneuerungsvarianten (z. B. Sanierung, Aufstockung, Anbau oder Ersatzneubau) und deren Machbarkeit.
2. Information der Mitglieder und Abklärung der Bedürfnisse
Der Vorstand informiert die Mitglieder der Genossenschaft über die festgestellten Mängel und über seine Absicht, weitere Abklärungen zur Machbarkeit verschiedener Varianten zu treffen. Er tut dies, ohne bereits mögliche konkrete Lösungen vorzustellen und nimmt die Anliegen der Bewohnerschaft auf
3. Ziele definieren und kommunizieren
Die Genossenschaft definiert die Ziele für die Erneuerung. Sie beruhen auf den festgestellten Mängeln und dem Bedarf der Bewohnerschaft, der möglichst in einem partizipativen Prozess ermittelt wird. In der Regel informiert der Vorstand 5 bis 7 Jahre vor dem Baustart an einer GV oder Mieterversammlung über die generellen Zielsetzungen und die Varianten, die er abklären möchte.
4. Varianten abklären
Anhand von Machbarkeitsstudien werden in der Folge meist mehrere Erneuerungsvarianten (Sanierung, Aufstockung, Anbau oder Ersatzneubau) vertieft untersucht. Die Machbarkeitsstudien vergleichen die Varianten anhand der Wohnungszahl und ökologischer, sozialer, stadtplanerischer und baukultureller Kriterien
5. Information über Ergebnisse und weiteres Vorgehen (Szenario Ersatzneubau)
Der Vorstand für lädt die direkt betroffenen Bewohner:innen an eine Informationsveranstaltung ein und berichtet über die geprüften Varianten mit allen Vor- und Nachteilen und über die weiteren Schritte. . Anschliessend werden die umliegenden Genossenschaften und das Quartier informiert, um die Terminplanung mit anderen Erneuerungsprojekten im Quartier zu koordinieren. Falls der Vorstand einen Ersatzneubau oder eine umfassende Erneuerung vorschlägt, sucht er Lösungen für die bisherigen Bewohnenden der Liegenschaften. Er beginnt mit der Planung von Ersatzwohnungen der aktuellen Bewohner:innen der betroffenen Liegenschaften. Für neue Mietende werden nur noch befristete Mietverträge (ohne Aufnahme in die Genossenschaft) ausgestellt.
6. Wettbewerb und Ausstellung
Die Genossenschaft organisiert ein Konkurrenzverfahren auf der Grundlage der Zielsetzungen, der Machbarkeitsstudien und der eingeschlagenen Stossrichtung. Falls ein Teilerhalt der Gebäude erwünscht ist, hält die Genossenschaft diesen Punkt ausdrücklich im Wettbewerbsprogramm fest. Parallel dazu setzt sie eine Jury ein, in der Fachleute, Vorstandsmitglieder und meist auch Genossenschafter:innen vertreten sind. Oft bietet es sich an, mit einer Ausstellung der Projekte über das Resultat des Konkurrenzverfahrens zu informieren.
7. Projektentscheid
Auf Empfehlung des Jury-Entscheids wird an der Generalversammlung durch die Mitglieder bzw. durch das statutengemäss zuständige Organ über das Projekt und dessen Kreditrahmen entschieden. In Mitgliedergenossenschaften können die direkt betroffenen Bewohner:innen gemeinsam mit den anderen Genossenschaftsmitgliedern über das Projekt entscheiden.
8. Umsetzung des GV-Entscheids
Nach dem OK der Generalversammlung erfolgt der Startschuss zum Projekt mit einer Baueingabe. Im Folgenden stellt der Vorstand den Informationsfluss zu den Betroffenen und zum Quartier sicher und erarbeitet eine konkrete Planung für die Umzüge. Nach erfolgreichem Bau haben die bisherigen Bewohner:innen der Siedlung Priorität beim Einzug in den Ersatzneubau. Die verbleibenden freien Wohnungen werden öffentlich ausgeschrieben.
Grösseres Wohnungsangebot auf kleinem Raum
Viele Wohnbaugenossenschaften erstellen Ersatzneubauten, um ihr Wohnungsangebot zu vergrössern. Dieses Vorgehen ist erfolgreich. In den letzten zehn Jahren haben Wohnbaugenossenschaften in der Stadt Zürich 3753 Wohnungen abgebrochen und 6587 neue Wohnungen erbaut. Das ergibt ein Plus von 2834 Wohnungen. Pro abgebrochene Genossenschaftswohnung wurden also etwa 1,8 neue Wohnungen erstellt.
Häufiger Ersatzneubauten
Im Vergleich zu anderen Wohnbauträgern setzen Wohnbaugenossenschaften häufiger auf Ersatzneubauten. Unterteilt man alle neu erstellten Wohnungen in der Stadt Zürich nach Neubau (vorher unbebautes Land, nachher Wohnen), Umnutzung (vorher Gewerbe oder andere Nutzung, nachher Wohnen) und Wohnersatzbau (vorher Wohnen, nachher Wohnen) kann man die Bautätigkeit der verschiedenen Eigentümergruppen vergleichen. In Grafik 1 dargestellt ist der Anteil der neu erstellten Wohnungen in Prozenten des ganzen Wohnungsbestands der jeweiligen Eigentümergruppe.
Grafiken 1: Neubauten, Umnutzung und Wohnersatzbau im Vergleich
Neubau auf vorher unbebautem Land
Umnutzung
Wohnersatz
Die Auswertungen zeigen, dass Neubauten auf vorher unbebautem Land bei allen Eigentümern immer seltener werden. Vor allem Wohnbaugenossenschaften wachsen seit etwa zehn Jahren vermehrt durch Ersatzneubauten. Die öffentliche Hand, andere private Gesellschaften und Privatpersonen brechen seltener Liegenschaften ab. Umnutzungen, beispielsweise von ehemaligen Industriearealen, spielen vor allem bei den anderen privaten Eigentümern eine wichtige Rolle.
Umbauen oder ersetzen?
In den letzten zwei Jahrzehnten betrug die Erneuerungsquote bei den Wohnbaugenossenschaften durchschnittlich 2,1 %. Jedes Jahr wurden 1,3 % aller Genossenschaftswohnungen (baubewilligungspflichtig) umgebaut und 0,8 % ersetzt. Bei einer Ersatzneubauquote von 0,8 % dauert es theoretisch 125 Jahre, bis der gesamte Wohnungsbestand ersetzt ist. Grafik 2 zeigt, dass der Ersatzneubau bei den Wohnbaugenossenschaften in den letzten Jahren gegenüber dem Umbau an Bedeutung gewonnen hat.
Grafik 2: Umbau- und Abbruchquote bei Wohnbaugenossenschaften
Fussabdruck verkleinern
Ein wichtiger Grund für Ersatzneubauten ist das Wohnungsangebot: Genossenschaften besitzen nach wie vor viele kleine 3- bis 3,5 Zimmer-Wohnungen, die zum Zeitpunkt des Baus als Familienwohnungen galten. Heute sind hingegen grössere Familienwohnungen gefragt – neben kleinen Wohnungen für Einpersonen-Haushalte. In den letzten 20 Jahren erstellten Genossenschaften bei Ersatzneubauten vermehrt grössere Wohnungen. Entsprechend sind die Wohnflächen pro Person bei genossenschaftlichen und städtischen Ersatzneubauten leicht gestiegen (siehe Grafik 3). Die individuelle Wohnfläche ist aber immer noch deutlich tiefer als bei anderen Eigentümern. In den letzten fünf Jahren hat sich der Trend umgekehrt: In den neuen gemeinnützigen Bauten ist die Wohnfläche pro Person kleiner als in den abgebrochenen Gebäuden.
Grafik 3: Wohnfläche pro Person in m2 vor und nach Ersatzneubau
Betrachtet man nicht die Wohn-, sondern die beanspruchte Landfläche pro Person, zeigt sich eine klare Verdichtung (siehe Grafik 4). Schon in den Altbauten haben Bewohner:innen in Liegenschaften der öffentlichen Hand und der Genossenschaften einen kleineren Fussabdruck als Bewohner:innen bei anderen Eigentümerschaften. Bei einem Ersatzneubau reduziert sich der Landflächenverbrauch nochmals markant.
Grafik 4: Landfläche pro Person in m2 vor und nach Ersatzneubau
Trotz Preisanstieg weiterhin moderate Mieten
Durch Ersatzneubauten geht preisgünstiger Wohnraum verloren, denn die Mieten sind in Neubauten höher. Das gilt auch bei Wohnbaugenossenschaften. In der öffentlichen Statistik liegen Mieten von Ersatzneubauten nicht separat vor. Die Mietpreiserhebung der Stadt Zürich von April 2022 erlaubt es jedoch, Mieten von Bestands- und Neubauwohnungen zu vergleichen und gibt damit gewisse Anhaltspunkte.
Am Beispiel von 3- bis 3,5-Zimmer-Wohnungen zeigt sich, dass bei gemeinnützigen Bauträgern (Stadt Zürich, Genossenschaften, Stiftungen) die mittlere Miete in einem Neubau um knapp 40 % höher liegt als die Bestandsmiete eines Haushalts, der 11 bis 20 Jahre in der gleichen Wohnung lebte (siehe Grafik 5). Bei nicht gemeinnützigen Eigentümern ist die Miete in einem Neubau um mehr als 90 % höher als eine Bestandsmiete mit der gleichen Mietdauer. Es scheint also, dass Genossenschaften durch Ersatzneubauten ebenfalls zu steigenden Mieten beitragen, jedoch in viel kleinerem Masse als die anderen Eigentümer. In absoluten Zahlen sind die Mieten in genossenschaftlichen Neubauten aber immer noch moderat.
Grafik 5: Nettomiete (Median) für eine 3- bis 3,5-Zimmer Wohnung
Die Ergebnisse sind jedoch einzuschränken: Erstens enthält die Mietpreiserhebung nicht nur Ersatzneubauten, sondern alle Neubauten. Das fällt vor allem bei nicht gemeinnützigen Eigentümern ins Gewicht und führt – wegen der hohen Landkosten – tendenziell zu höheren Mieten. Zweitens sind mögliche Unterschiede in Grösse, Lage und Ausstattung der Wohnungen der verschiedenen Eigentümer nicht berücksichtigt. Drittens sind die Mietdaten mit einer statistischen Unsicherheit behaftet, die je nach Kategorie mehrere Hundert Franken betragen kann.