2021 feierte die mit rund 150 Wohnungen in 18 Liegenschaften kleine, aber feine Baugenossenschaft Wiedikon (BGW) ihr 100-Jahr-Jubiläum. Sie erfährt derzeit an allen Ecken und Enden eine Verjüngungskur. Verschiedene Projekte von Sanierungen über einen Ersatzneubau bis hin zum neuen optischen Auftritt sorgen für Veränderungen in der Genossenschaft. Wohnbaugenossenschaften Zürich befragte Andy Kammermann, ihren Präsidenten, zu den Hintergründen und zum aktuellen Stand.
Der Jahresbericht 2021 der BGW erwähnt sowohl Sanie-rungen als auch Ergänzungs- und Ersatzneubauten. Welche Kriterien gaben für die verschiedenen Vorgehensweisen bei den Siedlungen 1 und 3 den Ausschlag? Wir haben frühzeitig eine gründliche Zustandsanalyse der beiden Kolonien in Auftrag gegeben. Der Befund war, dass unser jüngstes Gebäude, die Kolonie 3 mit Baujahr 1970, in schlechterem Zustand und von ungünstigerer Bauart war als unsere Kolonie 1 mit Baujahr 1922. Aus ökologischen Gründen – graue Energie! – wollten wir zudem nur abreissen, was sich aufdrängt resp. sich wirklich lohnt. Der Ersatzneubau der Kolonie 3 ermöglicht 65 % mehr Hauptnutzfläche gegenüber dem Altbau. Die Aufstockung und der Ausbau von Estrichflächen in der Kolonie 1 bringen 16 % mehr Hauptnutzfläche gegenüber dem Bestand. Mit einem Neubau wäre hier nicht viel mehr möglich gewesen. So wurde für einen Ersatzneubau der Kolonie 3 und eine Sanierung der Kolonie 2, mit teilweiser Aufstockung und dem Ausbau von Estrichflächen zu Wohnraum, entschieden.
Bezieht die BGW die Genossenschaftsmitglieder in den Erneuerungsprozess mit ein? Ja, allerdings nur beschränkt. In der Planung der Umgebung haben wir unsere Bewohnenden zu einem Workshop eingeladen und dann ihre Wünsche soweit möglich ins Projekt einfliessen lassen. Ansonsten haben wir stets offen und umfassend informiert und geäusserte Wünsche ernst genommen – so werden z. B. die Küchen nach der Sanierung neu über Schiebetüren statt Flügeltüren verfügen.
Wie wurde die «Umsiedlung» der vom Abbruch und Ersatzneubau betroffenen Bewohnenden angegangen? Die Genossenschaftsmitglieder der Kolonie 3, also des Abbruchobjekts, wurden über ca. drei Jahre laufend in freiwerdende Wohnungen der Kolonie 2 umgesiedelt, vereinzelt gab es auch Wegzüge aus der Genossenschaft. Die freiwerdenden Wohnungen wurden anschliessend nur noch befristet vermietet, fast ausschliesslich an die JUWO. Den Genossenschafterinnen und Genossenschaftern der Kolonie 1 wurden resp. werden für die ca. sechs Monate der jeweiligen Sanierungsetappen Übergangswohnungen zur Verfügung gestellt. Bis auf eine Wohnung, die wir von der Siedlungsgenossenschaft Eigengrund für ein halbes Jahr dazugemietet haben, können wir dank der langfristigen Planung eigene Wohnungen in der Kolonie 2 anbieten.
Gemäss Energieplanung der Stadt Zürich stehen alle Kolonien/Siedlungen der BGW im «Niemandsland». So liegen sie beispielsweise ausserhalb der geplanten Fernwärmenetze. Wie wird dort aktuell und wie künftig beheizt? Wir sind bisher leider sehr fossil unterwegs. Aber das bessert sich nun! Bisher wurden die Kolonien 1 und 3 von einer gemeinsamen Öl-Heizungsanlage versorgt. Neu, und seit diesem Sommer bereits trotz laufender Bauarbeiten schon in Betrieb, ist die neue und wiederum gemeinsame Holzpellets-Heizung für die Kolonien 1 und 3. Zudem installieren wir Fotovoltaikanlagen auf den Dächern des Neubaus wie auch der Altbauten. In unserer weitaus grösseren Kolonie 2 wird mit einer Zweistoffanlage Gas/Öl geheizt, unterstützt durch eine Solarthermieanlage. Ab 2024 stehen in der Kolonie 2 grössere Sanierungsarbeiten an, nämlich die längst fällige Innensanierung. Dannzumal wird auch die Heizung durch etwas «Nichtfossiles» ersetzt und ebenfalls die sehr alten Elektroinstallationen, sodass wir dann auch diese Dächer für Fotovoltaik nutzen können.
Gemäss der BGW-Website weisen die 96 Wohnungen der 1930 erbauten Kolonie 2 eine schlechte Bausubstanz auf. Warum wird nur innen saniert? Die Kolonie 2 wurde 2014/15 aussen komplett saniert, inkl. des Anbringens einer Aussenwärmedämmung. Deshalb ist nun nur noch die Innensanierung fällig.
Hätte es bei einem Ersatzneubau Probleme mit der Lärmschutzverordnung gegeben? Oder wäre nur noch eine geringere Ausnutzung möglich? Oder war es eine reine Kostenfrage? Die Idee eines Ersatzneubaus wurde vor ca. zehn Jahren propagiert und diskutiert, führte aber zu heftigem Widerstand seitens der Genossenschaftsmitglieder – bis hin zu Wechseln im Vorstand. Die heutigen Probleme der Lärmschutzverordnung waren damals noch keine und finanziell hätte die BGW einen Ersatzneubau stemmen und dank Ausnutzungsreserven mehr Wohnfläche realisieren können. Das entsprechende Projekt fand jedoch keine Mehrheit an der Generalversammlung.
Wird die Kolonie 2 in bewohntem Zustand saniert? Ja, wir sanieren im bewohnten Zustand, in Etappen, Haus um Haus. Dabei werden mobile Nasszellen und Küchenblöcke im Hof zum Einsatz kommen – eine wohl auch für die Bewohnenden erlebnisreiche Zeit …
Die BGW erneuert ja nicht nur ihre Liegenschaften. So hat sie sich zum 100-Jahr-Jubiläum 2021 ein neues Erscheinungsbild gegeben und erstmals überhaupt eine Website aufgeschaltet. Sind noch weitere digitale Schritte geplant wie beispielsweise eine App, über die die Genossenschaftsmitglieder untereinander und mit dem Vorstand bzw. der Verwaltung kommunizieren? Nein, da ist nichts geplant. Wir haben solche erweiterten digitalen Angebote im Vorstand schon diskutiert, sehen aber momentan keinen grossen Zusatznutzen für unsere kleine Genossenschaft. Ferner ergab eine kürzlich erfolgte Mieterbefragung überraschend viele negative Rückmeldungen bezüglich mehr «digitaler Nähe».
Die BGW hat keine eigene Geschäftsstelle. Stattdessen wurde die Baugenossenschaft Rotach mit der Bewirtschaftung der Liegenschaften betraut. Was ist der Grund dafür? Eine eigene Geschäftsstelle ergibt für unsere Genossenschaft mit ca. 150 Wohnungen von der Grösse her keinen Sinn. In der Vergangenheit wurde das operative Geschäft vom Vorstand übernommen. Dies wurde zunehmend als nicht mehr zeitgemäss, zu wenig professionell und schwierig wahrgenommen. Wir sahen uns deshalb nach einer uns nahestehenden Genossenschaft um und fanden mit der BG Rotach eine gute Partnerin.
Andere Genossenschaften scheuen diesen Schritt und führen als Hinderungsgrund die eigene Kultur ins Feld, und dass sie diese behalten wollen. War das zwischen der BGW und der Rotach ein Thema? Ja, auch wir wollen unsere eigene Kultur behalten und tun dies auch, das geht schon! Deshalb halten wir die Kommunikation mit unseren Bewohnenden in unseren Händen. Freie Wohnungen werden jeweils durch die Vermietungskommission vergeben, welche aus zwei Vorstandsmitgliedern und einer Person aus der Genossenschaft besteht. Zudem ist ein reger Austausch mit der BG Rotach wichtig. Mit solchen Massnahmen sichern wir unsere Kultur, auch wenn es finanziell nicht die schlankste Lösung ist.
Apropos Kultur: Bei Redaktionsschluss dieser blickpunkt-Ausgabe war noch ein interessanter Termin auf der BGW-Website vermerkt: «Besprechung zum Thema Garten und Umgebung der Kolonie 2». Dies ist sicher ein Zeichen dafür, dass die Genossenschafterinnen und Genossenschafter der BGW nach wie vor das Sagen haben und wohl auch rege in ihrer «alten» Genossenschaft mitwirken.
Im Zeitraffer
1921 taten sich acht Personen zur Gründung der Baugenossenschaft Wiedikon zusammen, einerseits mit dem Ziel, günstigen Wohnraum zu schaffen, und andererseits, um mit Bauprojekten Aufträge für ihr Bau- und Handwerkergewerbe zu generieren. Bereits 1923 konnte die Kolonie 1, vier Häuser mit 31 Wohnungen, bezogen werden. Die Wohnungen hatten einen bescheidenen Ausbaustandard. So gab es beispielsweise nur ein Gemeinschaftsbad, das sich im Keller des Hauses befand. Die Handwerker wurden zum Teil mit Anteilscheinen bezahlt und wurden so Genossenschaftsmitglieder. Im Gegensatz dazu blieben die Bewohnenden vorerst Mieterinnen und Mieter. 1928 konnte die Genossenschaft Land erwerben und ein neues Projekt lancieren. Und bereits 1930 waren die 13 Liegenschaften der Kolonie 2 mit 96 Wohnungen bezugsbereit. Da die Genossenschaft für deren Realisierung zusätzliche finanzielle Mittel brauchte, mussten die künftigen Mietenden Anteilscheine zeichnen und wurden so zu stimmberechtigten Genossenschaftsmitgliedern. Es folgten die schwierigen Jahre der Weltwirtschaftskrise, die es auch für die BGW zu überstehen galt. Erst Anfang der 1970er- Jahre wuchs die Genossenschaft wieder. Ende 1970 wurde die Kolonie 3 – gleich neben der Kolonie 1 – mit 23 Wohnungen fertiggestellt. 1974 begann man mit der Sanierung der Kolonie 1: Unter anderem bekamen die Wohnungen eigene Badezimmer. Ab 2021 begann die Rundumerneuerung.