Rückblick auf die 11. Fachtagung zum Thema Weiter-Bauen

Die Referierenden und das Organisationskomitee der Fachtagung 2022

 

Der Ersatzneubau wird in den Medien immer wieder thematisiert. Damit verbunden werden Reizworte wie Verdichtung, Verdrängung, Lärm und neuerdings auch die graue Energie bzw. die CO2-Problematik. Diese Aspekte der Gebäude-Erneuerung stehen bei den gemeinnützigen Bauträgern schon länger ganz oben auf der Agenda.

So widmete sich die 11. Fachtagung des gemeinnützigen Wohnungsbaus, organisiert von Wohnbaugenossenschaften Zürich, dem Amt für Hochbauten der Stadt Zürich und der Genossenschaft «mehr als wohnen», ganz dem Thema «Weiter-Bauen»: Wie wird welcher Aspekt gewichtet? Was gibt den Ausschlag für Reparieren, Sanieren, An- und Aufbauten oder den Ersatzneubau?

In der Einleitung blickte Andreas Wirz, Vorstand bei Wohnbaugenossenschaften Zürich, kurz zurück und umriss die aktuelle Situation: Seit 2008 sind in der Gemeindeordnung der Stadt Zürich die Zielvorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft gesetzlich verankert. 2010 bilanzierte die 1. Fachtagung erstmals den Stand der Dinge bezüglich dieser Zielsetzung. In den Folgejahren setzte sich die Fachtagung damit auseinander, wie die 2000-Watt-Gesellschaft gebaut werden soll, wie wir nachhaltig und gesund wohnen, wie wir schlau erneuern, Dinge klug gebrauchen und Bio-Diversität gestalten. Ab 2018 fokussierten sich die Fachtagungen auf das Bauen für die Zukunft, auf Netto-Null-Strategien und – mit den Symptomen der Klimakrise im Nacken – auf die Hitzeminderung und die Klima-Architektur.
2022 stimmte die Stadtzürcher Bevölkerung ausserdem der Verankerung der Klimaschutzziele in der Gemeindeordnung zu. Diese schreiben vor, dass die Stadt 2040 klimaneutral sein wird. Andreas Wirz räumt ein, dass Bauen unbestritten eine Treibhausgas-Schleuder ist. Er warf die Frage auf, ob man heutzutage überhaupt noch abbrechen und neubauen dürfe und ergänzte: «Was sind die Kriterien zur Entscheidungsfindung?»

Über den Zielkonflikt beim Wandern
André Odermatt, Stadtrat und Vorsteher des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich, zog zum Thema Weiter-bauen einen Vergleich zum Wandern. Man stecke sich ein Ziel hoch oben und suche dann den Weg dorthin. Dieser führe nicht immer auf das Ziel zu. Man müsse bei jeder Abzweigung entscheiden, ob es links oder rechts weitergehe, manchmal – wenn man sich falsch entschieden habe – müsse man auch ein Stück zurück gehen. Oder man finde eine Abkürzung, die aber so steil sei, dass man nicht mehr alle Mitglieder der Wandergruppe mitnehmen könne. Ihm komme der Weg zu Netto-Null vor, wie eine Bergwanderung. Das Ziel sei klar, null Treibhausgase und eine deutliche Reduktion des Energieverbrauchs. Den Weg dorthin würden wir aber noch nicht kennen, denn dies sei sozusagen eine Erstbesteigung. Je nach Rechnungsart mache die Erstellung und der Betrieb von Gebäuden rund 30 % der CO2-Emissionen in der Schweiz aus. Entsprechend gross sei der Effekt von Einsparungen in diesem Bereich. Die Stadt Zürich habe sowohl bei Sanierungen als auch bei Ersatzneubauten inzwischen viel Erfahrung sammeln können. Ebenso beim Energiesparen. Es gäbe – trotz rund 30 % Reduktion in den letzten 30 Jahren – noch viel zu tun. «Aber» so André Odermatt «wir haben grundsätzlich die politischen und finanziellen Möglichkeiten, vorauszugehen, auszuprobieren, um herauszufinden, was funktioniert.»
Er verweist darauf, dass nur rund 10 % der 50‘000 Gebäude auf Stadtgebiet der Stadt gehören. Man sei darum darauf angewiesen, dass auch die «Privaten» – und da seien die Genossenschaften mitgemeint – mitziehen. Wichtig sei ihm, dass bei der Erneuerung genau hingeschaut werde um die Komplexität des Themas zu erfassen und das grosse Ganze im Auge zu behalten. Auch sprach er die Verdichtung an: Es sei nachhaltiger, das erwartete Bevölkerungswachstum im urbanen Raum anzusiedeln, wo die Infrastruktur bereits vorhanden ist. Die städtische Bevölkerung habe in aller Regel kürzere Wege und kleinere Wohnflächen. So würden im Alltag weniger Emissionen verursacht. «Aber wir werden nicht darum herum kommen, zu bauen, wenn wir die vorhandenen Reserven in der BZO ausnutzen wollen. Die Frage ist dann: Was bauen wir? Wie bauen wir es und wann lassen wir auch etwas stehen?» Er regte an, die Standards – zum Beispiel bei der Gesetzgebung – zu überdenken und unsere Ansprüche – hier nannte er das Beispiel die Raumtemperatur – zu hinterfragen. Und zum Schluss mahnte er, dass zur Nachhaltigkeit sowohl ökologische als auch ökonomische und eben auch soziale Aspekte gehören.

Ökologie – Menschen – Raum: von der Wegwerf- zur Umbaukultur
Palle Petersen, Leiter Nachhaltigkeit bei Herzog & de Meuron stellte in seinem Referat die Frage «Ist es Zeit für eine neue Umbaukultur?» und lieferte diverse Informationen und Denkanstösse. So berichtete er vom Bundes deutscher Architekten, der in einem offenen Brief kürzlich gar ein Abrissmoratorium forderte, und von «Die Schweiz – ein Abriss», einer Ausstellung in Basel, samt Abriss-Atlas auf einer Website, auf der Zürich unschwer als Abriss-Hauptstadt der Schweiz auszumachen ist. Seine erste These war sodann: «Wir sind zu reich, nicht zu viele. Wir wollen zu viel Platz, zu viel Komfort.» So fallen heute 40 % aller CO2-Emissionen bei Bau und Betrieb an, wobei 27 % der Betrieb ausmache. Aber auch bei neuen Gebäuden fiele viel Treibhausgas an. «Wirklich netto-null bauen ist in meinen Augen heute nicht möglich.» Der Betrieb, das Heizen über die Lebensdauer des Gebäudes, mache da aber den deutlich kleineren Teil aus. Da das CO2 bei der Erstellung sofort und auf einen Schlag anfalle und die Kipppunkte beim Klima in den nächsten zehn bis 20 Jahren erreicht würden, sei vielleicht zu überlegen, den Entscheid für einen Neubau zu vertagen. Um 30 Jahre, nach denen die Neubauqualität vielleicht besser sei.

Anhand einer Sanierung einer Nachkriegssiedlung in Frankreich illustriert Palle Petersen, dass es auch um Menschen geht. Diese Wohnungen seien in bewohntem Zustand saniert und mit Balkonen versehen worden. So hätten 1000 Menschen bleiben können. Dies sei insofern wichtig, weil man ja nicht nur Tragwerke, sondern auch soziale Strukturen erhalten wolle. Dann kommt er auf den globalen Süden, das Bevölkerungswachstum und der damit steigende Flächenverbrauch weltweit zu sprechen. Hat man in Europa und Nordamerika den Zenith erreicht, stehen Länder wie China und Indien, Nigeria oder Mauretanien erst Anfang. Mit gravierenden Konsequenzen für die globale CO2-Bilanz. Seine Hoffnung ist, dass dort nicht so gebaut wird wie bei uns in der Vergangenheit.

Zum Abschluss stellt er noch den «Hortus» vor, ein Büroneubau in Allschwil von Herzog & de Meuron für die Senn AG aus St. Gallen. Anvisiert war ein PlusEnergiehaus, das – auch dank Solarpanels auf dem Dach in an der Fassade – über die Lebensdauer einer Generation kompensiert. Mit Erfolg: Das Gebäude wird über die Zeit ca. 40 % mehr Energie produzieren, als bei Erstellung und Betrieb verbaut wurde und verbraucht wird. Eine Erkenntnis aus diesem Bau: «Im Vergleich mit anderen Deckenkonstruktionen ist der heutige Standard, die Beton-Flachdecke, konkurrenzlos schlecht punkto Emissionen.»

Fünf konkrete Güterabwägungen
Verantwortliche von Liegenschaften Stadt Zürich sowie Leiter:innen Bau und Geschäftsführende von drei Wohnbaugenossenschaften präsentieren anhand aktueller Realisationen ihre Erneuerungslösungen von sanfter Renovation bis hin zum Ersatzneubau.
Annick Lalive d’Epinay, Bereichsleiterin bei Liegenschaften Stadt Zürich, stellte das instand gestellte Paradies vor, einer 1971 Siedlung mit 220 Wohnungen, viel Grünraum und riesiger Tiefgarage samt Zivilschutzanlage in Wollishofen. Hier musste man die positiven Aspekte wie die guten Grundrisse, die günstigen Mieten und die intakte Bausubstanz gegen die schlechte Statik, die Schadstoffe, der hohe Energieverbrauch, der falsche Wohnungsmix und die fehlende Hindernisfreiheit gegeneinander abwägen. Man fand bei der Gesamtinstandsetzung Lösungen, die auch eine Fassadendämmung und den Anschluss ans Fernwärmenetz beinhaltete. Die Planung liess ausserdem zu, dass die Realisation grösstenteils in bewohntem Zustand durchgeführt werden konnte. In einigen Fällen wurden Rochadewohnungen angeboten. Dank der Durchsetzung der Belegungsvorschriften bei der Neuvermietung wohnen nun statt 420 neu 570 Menschen in der Siedlung. Dadurch und dank den sparsamen Eingriffen konnten sowohl bei der grauen Energie als auch bei den Treibhausgasen fast 50 % eingespart werden.

Bei der Baugenossenschaft Wiedikon entschied man sich – so der Präsident Andy Kammermann – für ein Sowohl-und-als-auch, also für eine Sanierung mit Aufstockung der Kolonie 1 sowie dem Ersatzneubau der Kolonie 3. Dort bestand grosser Sanierungsbedarf. Und da die Genossenschaft über zu wenige Familienwohnungen verfügte. Ein Ersatzneubau für beide Siedlungen kam für die Genossenschaft aus sozialen Überlegungen nicht in Frage. Viele ihrer Bewohnenden hätten sich die Miete einer Neubauwohnung nicht leisten können. Nach einer eingehenden Analyse wurde klar, dass das jüngste Gebäude den schlechtesten Zustand und gleichzeitig das grösste Erweiterungspotenzial aufwies. In einem Studienauftrag wurden aber die umliegenden Gebäude, deren Sanierung und der Ausbau der Estriche zu Wohnungen mit einbezogen.
Die Sanierung ist inzwischen abgeschlossen, der Neubau wird im Frühjahr 2023 bezugsbereit sein. Durch die Massnahmen konnten neun zusätzliche Familienwohnungen erstellt, rund 20 % Wohnraum dazugewonnen und viel graue Energie des Altbestands erhalten werden.

Timur Ocak und Marco Reggio schilderten in ihrem Referat die Schwierigkeiten bei einer Aufstockung der Siedlung Weisshau der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Röntgenhof GBRZ in Zürich-Oerlikon. Mit der Aufstockung in Holz-Elementbau waren auch eine Totalsanierung der Grundrisse sowie der Einbau von Liften vorgesehen. Bei den Arbeiten tauchten nicht nur Altlasten auf. Sie mussten auch feststellen, dass die Bestandspläne nicht der gebauten Realität entsprachen. So mussten vor Ort neue Lösungen für die Statik gefunden werden. Marco Reggios Fazit lautete entsprechend: Aufgrund der unerwarteten zusätzlichen Baukosten würde die GBRZ Aufstockungen gegenüber einem Ersatzneubau künftig nicht mehr vorziehen. Die Bilanz bezüglich der Verdichtung, der Grundrisse und der Energieeinsparungen wäre deutlich besser gewesen.

Aus Sicht von Yvonne Züger, Portfoliomanagerin von Liegenschaften Stadt Zürich, gibt es durchaus auch sinnvolle Ersatzneubauprojekte. So stellte sie den Ersatzneuba der städtischen Siedlung Salzweg in Zürich-Altstetten vor. Auch hier habe man eine umfassende Analyse zu Bausubstanz, Grundrissen, Wohnungsmix, Energiebilanz gemacht. Die schlechte Bausubstanz und insbesondere das grosse Verdichtungspotenzial hätten die Entscheidung für einen Ersatzneubau leicht gemacht. Ausserdem bestand der Bedarf für Kitas, Kindergärten und einem Gemeinschaftsraum im Quartier. Im Vergleich zeigten die eingereichten Arbeiten des Architekturwettbewerbs, dass ein Ersatzneubau nicht nur deutlich mehr Wohnungen bieten würde, sondern auch punkto CO2-Emissionen mit den Instandsetzungen/Verdichtungen mithalten kann. Letztlich stellte sich der Ersatzneubau auch als wirtschaftlichere Lösung mit Zusatznutzen heraus.
Yvonne Züger sprach sich aber auch dafür aus, beim Portfoliomanagement das grosse Ganze im Auge zu behalten. Nicht jedes Projekt könne alle Kriterien erfüllen. Wichtig sei aus ihrer Sicht, jeweils das umzusetzen, wofür sich das betreffende Projekt am besten eigne. Mal gebe die graue Energie, mal eine grosse Ausnützungsreserve den Ausschlag. Schliesslich sei auch der Land- bzw. Wohnflächenverbrauch pro Person zu beachten.

Zu guter letzt stellte Lelia Bollinger das Ersatzneubauprojekt für die Gründersiedlung Letzigraben der Siedlungsgenossenschaft Eigengrund vor, der erste Ersatzneubau in der 75-jährigen Geschichte dieser Genossenschaft. Auch hier wurde das Potenzial des Areals sorgfältig analysiert und eine «Wunschliste» für die künftige Siedlung erstellt. Nebst einem flexibleren Wohnungsmix wollte man unter anderem auch zumietbare Zimmer, Gewerbeateliers, einen Jugendraum, eine Pflegewohngruppe sowie drei Kitas sowie die eigene Geschäftsstelle und einen Hauswartungsstützpunkt in der neuen Lösung unterbringen. Für eine Sanierung mit Aufstockung war die Gebäudesubstanz zu schlecht. Damit wären auch die energetischen und lärmtechnischen Zielvorgaben nicht zu erreichen gewesen. Der mit dem Energielabel Minergie-P-ECO erstellte Ersatzneubau erfüllt nun alle Kriterien einer gemeinnützigen Siedlung mit Zukunft und weist 70 % mehr Hauptnutzfläche auf. Ausserdem sind die Mieten – im Vergleich zum Umfeld – immer noch sehr tief.

The big picture
Niko Heeren, Leiter für umweltgerechtes Bauen beim Amt für Hochbauten der Stadt Zürich, knüpfte mit seiner Präsentation zu den verschiedenen Entwicklungsstrategien im Zusammenhang mit dem Netto-null-Ziel bei Yvonne Zügers Votum an: Er plädierte für eine Gesamtbetrachtung eines Portfolios. Man solle sich überlegen, wo was am besten realisiert werden könne. Die Ökologie sei nebst Verdichtung, notwendiger baulicher Erneuerung, Lärm und anderen nur ein Kriterium. Nicht in jedem Fall könnten alle Ziele zugleich erreicht werden. Auch müsse man vergleichen zwischen den Betriebsemissionen der Bestandsliegenschaften und den Emissionen, die durch den Neubau hinzukämen und beim Betrieb dieser Neubauten wieder eingespart würden. Der Anteil Betriebsenergie neuer Gebäude liege zwar nur noch bei ca. 20 %. Der Einbau der Gebäudetechnik, die diesen tiefen Wert ermögliche, beinhalte aber eben auch einen hohen Anteil an Emissionen.

Zielkonflikt mit Lösungspotenzial
Die Präsentationen veranschaulichten die verschiedenen Zielkonflikte, zwischen denen sich der gemeinnützige Wohnungsbau und -betrieb bewegt. Die Schlussrunde der 11. Fachtagung des gemeinnützigen Wohnungsbaus bestritten André Odermatt, Annette Aumann (Co-Moderation), Palle Petersen, Andrea Wieland, Astrid Heymann und Andreas Wirz (Co-Moderation).

Moderatorin Annette Aumann fragte in die Runde, was für sie – aus einer übergeordneten Sicht –bei der Entscheidungsfindung jeweils wichtig ist und ob die Kriterien in den letzten zehn Jahren verändert hätten. Andrea Wieland erwähnte das Nachhaltigkeitsmonitoring mit 27 Kriterien, das die Baugenossenschaft mehr als wohnen bereits bei ihrer Gründung aufgebaut habe. Die Genossenschaft habe – auch als Lernplattform gezeigt, dass Netto-null gehe.
Für Palle Petersen ist die Bestellung ein Riesenhebel und Emissionen wie alles andere Verhandlungssache. Man solle dies in seine Ausschreibungen hineinschreiben und Zielbänder für die verschiedenen Kriterien definieren, statt alles im Detail festzuschreiben.
Dafür brauche es eine Standardisierung der Berechnungsmethoden, meinte André Odermatt, die auch die (eingesparte) Mobilität einschliesse. Astrid Heymann plädierte nochmals für die Portfolio-Sichtweise: «In der Zürcher Altstadt haben wir ganz andere Probleme und können diese nur lösen, wenn wir sie als Ganzes betrachten, zusammen mit allen Eigentümern, entscheiden und auch mal weniger machen.» Und André Odermatt fügte an: «Das, was wir nicht bauen müssen, müssen wir auch nie sanieren oder aufstocken.»

Fazit (frei nach Andrea Wieland): Das Problem ist komplex und es gibt keine simple Lösung.
Fortbauung folgt. So wurde bereits beim abschliessenden Apéro über Ansätze, Kriterien und deren Gewichtung diskutiert. (Die Präsentationen aller Referate finden Sie hier als PDF >)

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