Kurz zusammengefasst findet kein Rückgang der Freiwilligenarbeit in der Schweiz statt, lediglich eine Verlagerung von dauerhaften zu punktuellen Engagements. Wichtig für die Freiwilligen ist, dass ihr Einsatz wertgeschätzt wird und dass die Strukturen – im Kontrast zu den meisten Arbeitssituationen – offen und flexibel sind. Wenn man das beherzigt, verfügt man gerade als Wohnbaugenossenschaft über eine wahre Schatztruhe. Diese muss aber behutsam gehoben werden.
Die Kommission Gesellschaft & Soziales GESKO von Wohnbaugenossenschaften Zürich lud seine Mitglieder am 5. September 2023 zu einer weiteren Impulsveranstaltung ein, diesmal zum Thema «Freiwilliges Engagement in Genossenschaften». Im gut besetzten Saal der Jugendseelsorge Zürich fanden sich Vertretende aus Geschäftsleitungen, Vorständen und Kommissionen gemeinnütziger Bauträger ein – das Thema interessierte aus den verschiedensten Gründen.
Im Kern ist die Schweiz ein Land der Freiwilligen.
Cornelia Hürzeler, Projektleiterin Migros-Kulturprozent und Fachfrau für zivilgesellschaftliches Engagement, zeigte in ihrem Inputreferat den gesellschaftlichen Wandel und seine Auswirkungen auf das Engagement auf. Vor allem machte sie deutlich, dass die Freiwilligenarbeit im Vereinsrecht in der Bundesverfassung fest verankert und damit ein Teil der Schweizer DNA sei. Mehr noch: Unsere Gesellschaft profitiere täglich davon, oft auch ohne es zu merken. Vieles sei nicht von der öffentlichen Hand, sondern zivilgesellschaftlich organisiert, oft in einem der rund 100 000 Vereine, von der Stillberatung und Feuerwehr über die Ortsverschönerung bis hin zur Politik. Ohne Freiwilligenarbeit für das Gemeinwohl würde unser Alltag nicht funktionieren. Oder: Der Staat müsste deutlich mehr Mittel für eine funktionierende Gesellschaft aufwenden.
Längerfristig läuft es auf immer kurzfristigere Engagements hinaus.
In den letzten Jahren habe sich das Engagement über alle Generationen hinweg aber verändert: von langjähriger Mitarbeit zu kurzfristigen Spontaneinsätzen. Freiwillige suchten Themen, nicht die Mitgliedschaft in einem Verein. Dies hat vor allem mit der Individualisierung der Gesellschaft zu tun. Vor diesem Hintergrund gibt es eine Hitliste bei der Motivation, sich zu engagieren: Spass an der Tätigkeit (in Ergänzung zum bezahlten Job), der Gesellschaft etwas zurückgeben, etwas bewegen und gestalten wollen, die eigenen Kenntnisse erweitern und das persönliche Interesse am Thema sind die Haupttreiber. Auch Wertschätzung, gute Teamarbeit und Autonomie bei der Zeiteinteilung und der Umsetzungsweise sind vielen wichtig. Eine Entschädigung kommt erst ganz am Ende der Liste.
So skizzierte sie Ansätze, um unter diesen neuen Bedingungen neue Freiwillige für kurz- oder auch längerfristige Engagements zu motivieren. Wichtig sei, dass die Menschen persönlich – nicht mit Flyern – angesprochen werden. Sie hielt fest, dass die Feuerwehr oft freiwillig sei, die Freiwilligen aber keine Feuerwehr seien. Auch ging sie kurz auf die Freiwilligenarbeit in Baugenossenschaften im Speziellen ein: «Freiwilligenarbeit in einer Baugenossenschaft bedeutet eigentlich, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen und die Zukunft zusammen zu gestalten.»
Freiwillig ja, aber immer öfter aus Eigennutz
Es folgten Beispiele aus der Praxis. So stellte Sara Huber von der Baugenossenschaft Glattal Zürich (BGZ) zunächst klar, dass man bei der BGZ in erster Linie von der Förderung des Zusammenlebens spreche. Sie berichtete davon, wie die Genossenschaft das «soziale Kapital» und das freiwillige Engagement von Anfang an, also gerade bei Neuzuziehenden, fördert. So beginnt diese Förderung – die BGZ hat zahlreiche Ersatzneubauprojekte – bereits Monate vor dem Einzug in die neuen Siedlungen, bei einem Willkommensanlass. Beim gegenseitigen Kennenlernen werden auch Erwartungen und Wünsche eruiert. Zwei Wochen nach Bezug wird ein Infoanlass durchgeführt und etwa drei Monate später finden die ersten Nachfolgeanlässe statt, bei denen man Ideen und Anregungen seitens der Bewohnenden sammelt und sich bereits erste Arbeitsgruppen bilden. Diese Arbeitsgruppen werden von der Verwaltung zum Beispiel bei Sitzungen und Arbeiten sowie mit finanziellen Mitteln unterstützt.
Auf diese Weise konnten die früheren Siedlungskommissionen abgelöst werden. Stattdessen bilden Delegierte aus den Arbeitsgruppen eine sogenannte «Aktive Gruppe», die die verschiedenen Vorhaben koordiniert, ein Budget bekommt und dafür auch die Verantwortung trägt. Selbstverständlich wird dabei darauf geachtet, dass sich die Freiwilligen dort einsetzen können, wo sie Stärken haben und auch für sich selbst den grössten Nutzen sehen. Nicht selten sei dies beim Engagement im eigenen Quartier. Konkret – beim einzelnen Bauvorhaben – plane die BGZ drei Zeitfenster ein, die sie für die Mitwirkung der künftigen Bewohnenden öffne: für Ideen, die in die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs einfliessen, für Feedbacks zur Anpassung des ausgearbeiteten Bauprojekts und zum Baubeginn, bei dem auch die Ausstattung der Begegnungszonen ausgehandelt wird.
Wichtig sei die Haltung der Genossenschaft gegenüber den Freiwilligen. So begegne die BGZ ihnen auf Augenhöhe, zeige ihnen einerseits im direkten Kontakt die gebührende Wertschätzung und andererseits auch die Grenzen der Mitwirkung auf.
Soziale und Freiwilligenarbeit in der ABZ: komplex, aber gut verankert und vernetzt
Jonas Bösiger von der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) zeigte, wie Freiwilligenarbeit bei der ABZ System hat und wie das Freiwilligensystem weiterentwickelt wird. Es sei im Augenblick noch ein komplexes System, die Mitwirkungsprozesse fänden auf verschiedenen Ebenen statt. Die ABZ hat 35 Siedlungskommissionen mit 185 gewählten (unentgeltlich arbeitenden) Siko-Mitgliedern. Den Sikos nahestehend gibt es eine Vielzahl von Arbeitsgruppen, die sich um die verschiedenen Aufgaben kümmern: Kompost, Boule-Platz, Mittagstisch-OK und viele mehr. Diese Arbeitsgruppen aus Freiwilligen entstehen organisch und seien für das Leben in der ABZ sehr wichtig. Deshalb arbeite man aktuell daran, auch diese in den Statuten abzubilden.
Die Genossenschaft biete Kurse an, um die Arbeitsgruppen zu befähigen, Kassen zu führen und Projekte zu realisieren. Zurzeit arbeite die ABZ an einem Projekt zur Weiterentwicklung ihres Freiwilligensystems. Vom Austausch mit den Freiwilligen hat man wichtige Erkenntnisse gewonnen: Diese sollen sich dort einbringen, wo es thematisch für sie stimmt. Und sie wünschen sich mehr Selbstorganisation und weniger «Pflichtprogramme». Andererseits müsse man sich ihrer Partikularinteressen bewusst sein: Letztere machten es schwer, davon Ideen für die ganze ABZ abzuleiten. Deshalb habe die ABZ 2022 zwei Mitwirkungsworkshops an alle Interessierten ausgeschrieben und mit jeweils 50 Teilnehmenden veranstaltet. Die Erkenntnisse zeitigen bereits konkrete Veränderungen: Die Siko-Treffen wurden für weitere Interessierte geöffnet und neu thematisch ausgerichtet, die Treffen der Siko-Präsidien wurden abgeschafft und die Strukturen und Rahmenbedingungen werden laufend vereinfacht.
(V. l. n. r.) Cornelia Hürzeler, Sara Huber, Jonas Bösiger und Bigi Obrist diskutierten anschliessend mit dem Publikum über erfolgversprechende Strategien.
Das Podium ist sich einig: Freiwilligenarbeit ist kein Selbstläufer.
Anschliessend nahmen die drei Referierenden bei Bigi Obrist, Vorständin bei Wohnbaugenossenschaften Zürich, auf dem Podium Platz. Sie knüpfte beim Thema «Haltung» an und stellte die Frage in die Runde, ob es das Ziel sei, dass die Freiwilligenarbeit nach dem Anschub zum Selbstläufer wird. Einhellige Meinung: Ohne kontinuierliche «Investitionen» seitens der Genossenschaft, also z. B. Moderation oder Unterstützung, gehe es nicht. Dies sei auch nicht die Absicht. Jonas Bösiger gab zu bedenken, dass die Wohnbaugenossenschaften vom Bauen kommen und daher prozesshaft denken. Dieses Denken könne man aber nicht über die Freiwilligenarbeit stülpen. Auch bei der zweiten Frage – nämlich wo die Grenzen zwischen bezahlter und Freiwilligenarbeit liegen – waren sich alle einig: Freiwillige schreiben keine Konzepte. Sie nehmen in der Regel Aufgaben dort wahr, wo sie einen direkten Bezug zu ihrem Alltag und zu ihrer Umgebung haben. Ausserdem bilde das Know-how auch eine «natürliche» Grenze, derer sich die Engagierten sehr wohl bewusst seien.
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