Wachstumsschmerzen? – Ein offenes Gespräch mit Gemeindevertretenden

Die Schweizer Bevölkerung wächst. Das stellt nicht nur die grossen Zentren vor neue Herausforderungen. Auch Gemeinden in der Agglomeration und auf dem Land bekommen das zu spüren. Denn «Land» ist keine Ressource, die vermehrt werden kann. Wohnbaugenossenschaften Zürich hat Vertretende von vier sehr unterschiedlichen Gemeinden im Kanton Zürich zu einem Gespräch eingeladen, um ein besseres Verständnis für die Befindlichkeiten zu bekommen und möglicherweise gemeinsamen Interessen auf die Spur zu kommen.
Am Gespräch teilgenommen haben Patrick Müller (Gemeindeschreiber von Urdorf), Monika Rohr (Vize-Gemeindepräsidentin von Stallikon), Beat Nüesch (Gemeindepräsident von Horgen) und Dominic Müller (Hochbauvorstand der Stadt Dübendorf).

Herzlichen Dank, dass Sie der Einladung gefolgt sind. Wir möchten in diesem Gespräch herausfinden, was Ihre Gemeinden derzeit und vielleicht auch auf längere Sicht beschäftigt. Eine Herausforderung hat sich bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch schnell herauskristallisiert: das Bevölkerungswachstum. Es wird immer wieder von der 10-Millionen-Schweiz gesprochen. Die Raumplanung des Kantons Zürich geht davon aus, dass allein der Kanton Zürich bis 2040 um 280’000 Menschen wachsen wird. Was heisst das für die Gemeinden?

Beat Nüesch (Horgen): Wir in Horgen arbeiten intensiv am Thema. Wir wissen, dass wir jedes Jahr um ein Prozent wachsen. Wir haben ein räumliches Entwicklungskonzept, gehen die Richtplanung an und erarbeiten eine neue Bau- und Zonenordnung, die auf eine Verdichtung hinausläuft. Das Problem wird aber nicht gelöst mit mehr Wohnraum. Es braucht auch Infrastruktur, und der Verkehr ist ein wichtiges Thema. Bei Freiflächen fragen wir uns immer: Wofür sollen wir die Flächen nutzen? Und da kommt die Schaffung von Wohnraum erst an vierter Stelle. An erster Stelle kommt die Bereitstellung von Schulraum, dann Raum für die Asylsuchenden, dann Infrastruktur wie zum Beispiel der Ausbau unseres Fernwärmenetzes, und erst wenn dann noch Spielraum bleibt, ist die Schaffung von Wohnraum ein Thema.

Dominic Müller (Dübendorf): Und dafür muss man die Flächen auch besitzen! Sie müssen sich von der Lage und Grösse her eignen. Dann muss man all die Überlegungen anstellen: Sind sie von öffentlichem oder gesellschaftlichem Interesse oder soll man sie etwas so Individuellem wie dem Wohnen zuführen? In Dübendorf haben wir in Wohnzonen auch Flächen, die der Stadt gehören, auf denen Wohnraum nach Kostenmiete geplant ist. Da entstehen zwar rund 200 Wohnungen, aber diese sind für den Wohnungsmarkt ein Tropfen auf einen heissen Stein.

Patrick Müller (Urdorf): Die Mechanik von Wachstum ist relativ einfach. Wachstum ist eine Realität und auch alternativlos, wenn man unser Wirtschaftssystem anschaut. Aber dieses Wachstum hat auch Schattenseiten: Der Raum ist beschränkt und Wachstum erhöht den Druck auf diesen Raum. Die Nachfrage steigt, das Angebot aber nicht im gleichen Mass. Das merken wir auch. So diskutieren wir in Urdorf aktuell über die Bereitstellung von Notwohnungen für Menschen, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können. Wir müssen das Angebot erweitern… Wachstum führt auch dazu, dass wir die «Dorfgemeinschaft» verlieren. Da muss man als Gemeinde Integrationsbemühungen leisten. Das machen Genossenschaften in grossem Mass, durch Durchmischung, durch gemeinschaftliche Räume, die sie zur Verfügung stellen, und durch kostengünstigen Wohnraum. Voraussetzung dafür ist, dass Genossenschaften überhaupt Land zur Verfügung gestellt bekommen.

D. Müller (Dübendorf): Wenn ich durch Schwamendingen fahre und sehe, wie verdichtet und in welcher Qualität die Genossenschaften hier neu bauen – im Vergleich zu dem, was vorher dastand –, ist das schon eindrücklich. Ein wichtiger Teil des Begriffs Kostenmiete sind ja die Kosten. Bei der steigenden Komplexität beim heutigen Bauen – zum Beispiel bei den Bewilligungspflichten, aber auch bei den sich konkurrenzierenden Zielen bezüglich Energieversorgung, Hindernisfreiheit oder Lärmschutz –wird so viel verlangt, dass der fertige Bau zwar in Kostenmiete vermietet werden kann. Aber die Miete von etwas Teurem ist immer noch teuer. Zum Glück beobachten wir da einen Paradigmenwechsel bei den Bauherrschaften. Man probiert, in anderen Materialisierungen und Typologien zu bauen.

P. Müller (Urdorf): Das ist eine Erfahrung, die wir auch machen, nämlich dass sich Wohnbaugenossenschaften zum Beispiel in Bezug auf die Nachhaltigkeit eher einen höheren Standard auferlegen, was sich auch in den Baukosten niederschlägt. Das macht sich mit der Zeit aber bezahlbar. Und da sie den Gewinn als Rückstellungen in der Genossenschaft belassen, verfügen sie über Erneuerungsreserven.

D. Müller (Dübendorf): Wir haben im Stadtzentrum von Dübendorf ein Areal mit viel Potenzial. Wir haben den Mix von Marktmiete und Kostenmiete mit 60 zu 40 % festgelegt und ein kommerziell-genossenschaftliches Tandem gesucht, dass für das Leepünt-Areal ein Projekt mit Zentrumsqualitäten realisiert. Die Förderung von preisgünstigen Wohnungen nach dem Kostenmiete-Prinzip ist übrigens in unserer Gemeindeordnung festgeschrieben, gehört also zum Grundauftrag. Die Genossenschaft Kalkbreite – zusammen mit der Firma Senn – hat den Wettbewerb gewonnen, weil sie mit ihren Vorschlägen sehr überzeugend aufgezeigt haben, wie sich aus dem Zentrum eben ein Zentrum machen lässt. Da zeigt sich die zusätzliche Qualität im Denken und – vielleicht bei der Kalkbreite speziell – die Angewohnheit, aus anspruchsvollen Lagen das Beste zu machen. Und beim 40 %-Anteil Kosten miete muss man einfach sagen: Auch wenn es Stimmen gibt, die lieber 80 % oder noch mehr gehabt hätten, so muss man doch auch den politischen Mehrheiten Rechnung tragen.

P. Müller (Urdorf, richtet seine Frage an Monika Rohr): Bei euch in Stallikon wäre ja die Partnerschaft zu einer Wohnbaugenossenschaft nicht alternativlos. Es gäbe ja auch Pensionskassen. Warum war es denn gerade eine Genossenschaft?

Monika Rohr (Stallikon): Im Zentrum stand von Anfang an der Gedanke der Gemeinschaft, die Idee eines Dorfzentrums. Und uns war klar, dass dies eine Genossenschaft am besten leisten kann. Wir haben über Wohnbaugenossenschaften Zürich mehrere Wohnbaugenossenschaften eingeladen, sich zu bewerben. Wir hatten zunächst ein Auswahlverfahren und haben uns aufgrund der Präsentationen für die geho entschieden. Nun sind wir schon ein paar Jahre daran, haben zwei (Architektur-)Wettbewerbsrunden hinter uns und sind nun dabei, mit dem Ortsplaner das Stalliker Entwicklungsleitbild in Abstimmung mit dem Siegerprojekt zu überarbeiten. Für mich sind in diesem Zusammenhang «Wohnen im Alter» und «Freiwilligenarbeit» sehr wichtige Themen, gerade weil dieses Projekt das Dorfzentrum betrifft. Auf gemeinde eigenem Land können wir etwas Sinnvolles machen. Schliesslich ist Alterswohnen eine öffentliche Aufgabe, die in Stallikon immer drängender wird. Hier wohnen sehr viele ältere Personen.

B. Nüesch (Horgen): Das ist eine ganz interessante Frage: Wer ist – aus Sicht der Gemeinde – eigentlich das Zielpublikum, wer soll hier wohnen? Wenn man nur schon unsere Nachbargemeinde Oberrieden, die älteste Gemeinde im ganzen Kanton, vom See aus betrachtet, sieht man haarscharf, obwohl unsere Gemeinden zusammengewachsen sind, wo die Grenze verläuft. Man erkennt es an der Siedlungsstruktur. Thalwil und Horgen verdichten, bauen in die Höhe, Oberrieden dazwischen bleibt einfach so, wie es ist. Aber wir wollen ein attraktives Dorfleben, wir haben 150 Vereine.

Apropos Unterschiede: Horgen und Wädenswil sind bei den Einwohnerzahlen in etwa gleich gross. Wädenswil hat aber nur einen Gemeinnützigen-Anteil von 3,6 %, Horgen deren 11,4 %. Liegt das an der Ausrichtung auf ein anderes Zielpublikum?

B. Nüesch (Horgen): Das ist historisch gewachsen. Horgen hatte vor 100 Jahren viel Industrie. In den Zwischenkriegsjahren floss der grösste Teil der Steuergelder in die soziale Wohlfahrt und dazu gehörte auch der gemeinnützige Wohnungsbau. Davon haben natürlich – in Zeiten, als Pendeln noch keine Selbstverständlichkeit war – auch die ortsansässigen Arbeitgeber profitiert.

M. Rohr (Stallikon): Stallikon ist ein Weilerdorf entlang und zwischen Albiskette und Reppischtal mit viel Landwirtschaft und Tieren auf den Weiden – ein Idyll und ganz nahe bei Zürich; der höchste Punkt der Gemeinde liegt auf dem Üetliberg, dem Hausberg der Stadt Zürich. Die Anziehungskraft für Wohnen in Stallikon in einem Satz: Hier hat man Ruhe. Dessen ist man sich bewusst und nimmt in Kauf, dass die Fahrt an den Hegibachplatz bis zu einer Stunde dauern kann.

P. Müller (Urdorf): Entscheidend bei der Frage, ob man kommerziellen oder gemeinnützigen Wohnungsbau bei sich in der Gemeinde will, ist doch der Zweck, die Ausrichtung. Und wenn man feststellt, dass die Gemeinde mehr Gemeinschaft will, dann kann man das mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten ein Stück weit auch lenken.

In der Stadt Zürich wird – vor allem im Zusammenhang mit dem Ersatzneubau – immer öfter von Verdrängung gesprochen. Ist das in Ihren Gemeinden auch schon ein Thema?

D. Müller (Dübendorf): Das ist akut. Gefühlt drückt das Problem aus der Stadt Zürich hinaus in unsere Gemeinden. Und mit jeder Aufzonung – dazu werden auch wir angehalten – findet innerhalb kürzester Zeit eine Erneuerung statt. Siedlungen mit vormals günstigem Wohnraum aus den 60er-Jahren werden durch Neubauten ersetzt, die Mieten verdoppeln sich.

Und wo gehen die Menschen, die dort gewohnt haben, hin?

D. Müller (Dübendorf): Sie sind irgendwann gezwungen, weiter weg zu suchen, im Zürcher Oberland. Oder im Thurgau. Das sind grössere Entwicklungen. Als Gemeinde können wir das nur sehr beschränkt steuern, wir haben nicht ein bestimmtes strategisches Zielpublikum definiert – viel davon passiert einfach mit uns.

P. Müller (Urdorf): Wir spüren den Druck aus der Stadt Zürich. Erst war Schlieren dran, dann Dietikon, dann Urdorf, es geht bereits weiter, zum Beispiel in Baden.

Trotz Tiefststand bei den Leerwohnungsziffern kommt es im Kanton Zürich jedes Jahr zu rund 80’000 Umzügen. Ist es also dennoch möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden?

P. Müller (Urdorf): Die Migration ist trotz tiefen Leerstandquoten im Augenblick noch möglich. Aber unser Bedarf an Notwohnungen ist ein erstes Warnsignal. Was wir bei Ersatzneubauten – und in der Folge steigenden Mieten – feststellen, ist, dass es zu frühzeitigen Pflegeheimeintritten kommen kann. Das wird dann für die Gemeinde wirklich teuer.

D. Müller (Dübendorf): Bei der Pensionierung schrumpft das Haushaltseinkommen. Gleichzeitig sitzt man in einer zu grossen Wohnung und findet keine kleinere Wohnung zu gleicher oder tieferer Miete, selbst wenn man wechseln möchte. In Dübendorf kaufen lokale Investoren den Einfamilienhaus-Besitzenden unternutzte Parzellen ab, bauen auf gleicher Fläche mehrere Wohnungen und überlassen den vormaligen Besitzerinnen und Besitzern zum Beispiel die Attika-Wohnung. So werden die EFH-Quartiere nach und nach verdichtet. Im grösseren Massstab: Ein Familienbetrieb im «Hochbord», der auf eigenem Land eine Gemüseproduktion betrieben hat, hat sich auf der Suche nach einem Partner mit Bau-Know-how und der Bereitschaft, sich auch finanziell zu beteiligen, mit der wogeno zusammengetan, um auf einer Parzelle ein gemeinnütziges Wohnprojekt zu realisieren. Das finde ich als Gedankenmodell ganz interessant. Gibt es da nicht eine Art Netzwerk oder eine Stelle, bei der man melden kann, dass man ein Objekt hat, es aber nicht alleine entwickeln kann?

Wohnbaugenossenschaften Zürich hat eine Dienstleistung, die genau das tut, für Genossenschaften, die wachsen wollen und an Käufen von Land und Liegenschaften grosses Interesse haben. Der Verband bekommt immer wieder solche Angebote, prüft diese bezüglich Potenzial und Eignung für den gemeinnützigen Wohnungsbau und schreibt sie dann an seine Mitglieder aus.

Unsere Gesellschaft verändert sich. So zeigen demografische Daten, dass die Altersgruppe der über 64-Jährigen stetig wächst. Wie wirkt sich das auf das Leben in ihren Gemeinden aus?

B. Nüesch (Horgen): Wir müssen unterscheiden: Die Altersgruppe 65 bis 80 lebt klar im eigenen Wohnraum, ab 80 wird es dann eine Frage des betreuten Wohnens oder der ambulanten Betreuung. Horgen hat sich eben mit vier weiteren Seegemeinden – Kilchberg, Rüschlikon, Thalwil und Oberrieden – zusammengetan, um den «Pflegeraum» gemeinsam zu managen. Eine Gemeinde ist vielleicht im psychiatrischen Bereich stark, eine andere Gemeinde bei einem anderen Angebot. Wir wollen das neu regional betrachten und lösen.

D. Müller (Dübendorf): Für die letzte Phase, wo es Betreuung braucht, haben wir die Kapazität und die Infrastruktur. Ich frage mich allerdings, ob diese am richtigen Ort stehen. Unsere Alterszentren befinden sich in der Peripherie. Das ist nicht so attraktiv für ältere Menschen, die am öffentlichen Leben teilnehmen wollen. Bei den Alterswohnungen denke ich eher an das Thema Alters-WG, zum Beispiel in der Art der genossenschaftlichen Clusterwohnungen. Es entspricht heute einem Bedürfnis von älteren Menschen, weiterhin mit Jüngeren zusammenzuleben, und da sind wir beim Generationenwohnen. Ich habe kürzlich das von der Genossenschaft Warmbächli zu Wohnraum umgenutzte ehemalige Toblerone-Lager in Bern besucht. Dort gibt es sehr spannende Wohntypologien für die verschiedensten Wohnnutzungen für Singles, Familien und ältere Menschen. Man hat einerseits Privatsphäre, andererseits Räume, die gemeinsam genutzt werden. Das kann auch finanzielle Vorteile haben. Die Älteren brauchen weniger Betreuung und im Gegenzug kann sich die Familie einen Teil der Kinderbetreuung sparen.

P. Müller (Urdorf): Wenn man schaut, wie sich der Mensch sozialisiert – er wird in eine Familie geboren, kommt in eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig hilft, geht in der Gesellschaft auf –, dann ist der Mensch eingebettet in eine Dorfgemeinschaft. Aus meiner Sicht besteht deshalb ein moralischer Anspruch, dass dieser Mensch in seinem angestammten Umfeld alt werden kann. Daher frage ich mich, ob der regionale Ansatz korrekt ist. Finanziell mag das Sinn machen. Aber machen die Menschen dabei mit?

Zum Schluss noch ganz kurz eine kleine Abstimmung: Sollte die kantonale VKR-Initiative angenommen werden, wäre das Vorkaufsrecht dann ein willkommenes Instrument für Ihre Gemeinde?

M. Rohr (Stallikon): Das finde ich gut. Man müsste dies wahrscheinlich jeweils vor die Gemeindeversammlung bringen.

D. Müller (Dübendorf): Ich bin sehr ambivalent. Einerseits wünsche ich mir mehr Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten für die öffentliche Hand, andererseits stellen sich auch ein paar ganz praktische Fragen im Zusammenhang mit dem Vollzug, auf die ich keine überzeugenden Antworten kenne.

P. Müller (Urdorf): Ich habe prima facie Bedenken. Wenn jemand bspw. seine Bäckerei (Unternehmen samt Liegenschaft) an jemand anderen übergibt, könnte die Gemeinde in die Wirtschaftsfreiheit eingreifen.

B. Nüesch (Horgen): Oder wenn eine Familie ein Haus zu einem Freundschaftspreis kaufen kann, weil der Hausbesitzer will, dass diese Familie einziehen kann… Man muss das gut durchdenken, ich bin der VKR-Initiative gegenüber sehr skeptisch.

M. Rohr (Stallikon): Wenn sich herausstellen sollte, dass der Verkauf ganz bewusst «privaten Charakter» haben soll, dass es sich bei einem Geschäft um eine solche Situation handelt, kann sich die Gemeinde ja auch wieder zurückziehen.

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